Rezension – Dirk Baecker (2013), “Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie”


(1) Warum sollte man dieses Buch von Dirk Baecker lesen? 

(1a) Allgemein
Eine spannende Lektüre stellen Dirk Baeckers Texte, insbesondere aus jüngerer Vergangenheit, meines Erachtens aus zwei Gründen dar:

  • Grund 1: Während es anfangs noch darum ging, die Bielefelder Systemtheorie auf Basis des Formenkalküls von Spencer Brown umzuschreiben und dabei zuzuspitzen, bastelt Baecker seit einigen Jahren an einem theoretischen Alternativprogramm.  Dieses läßt die minimalontologisierte Systemprämisse Niklas Luhmanns, “Es gibt (selbstreferenzielle soziale) Systeme” , zugunsten formbasierter Beobachtungsleistungen fallen (siehe [1]).
  • Grund 2: Diese formbasierten und abstrakten Beobachtungsleistungen versprechen einen Anschluß an die allgemeinere Komplexitätsforschung, weil sich nun die folgende Frage auftut:
    Kann ein generalisierter Beobachtungsbegriff nicht mehr nur für Bewußtsein oder Soziales (interaktionale Zusammenhänge, Organisationen, etc.), sondern auch für nicht-sinnhafte Dynamiken auf maschineller, biologischer und physikalisch-chemischer Ebene verwendet werden (siehe als Studie in diese Richtung [3])?
    Die Anschlußfrage wäre dann: Falls diese Beobachtungsgeneralisierung möglich ist, könnte das dazu beitragen, die disziplinspezifischen Kommunikationsbarrieren, die meiner Meinung nach in der Komplexitätsforschung existieren, etwas zu minimieren?
    Anders formuliert: Könnte eine formbasierte Lingua franca zwecks Verbesserung der transdisziplinären Kommunikation in Sachen Komplexitätsforschung Verwendung finden?

(1b) Speziell dieses Buch
Diesen Text würde ich als einen Höhepunkt des jahrelangen Werkelns an einem sozialen Kalkül im Anschluß an George Spencer Browns “Laws of Form” ansehen. Hierbei wird ein generalisierter Beobachtungsbegriff mit einem entsprechenden Verständnis von Kultur kurzgeschlossen.
Kurzum: Wer heutzutage über Dirk Baeckers sozialen Kalkül diskutieren möchte, kommt an diesem Referenztext eigentlich nicht vorbei. Andere (allgemeinere) Texte zu Baeckers Sozialkalkül können demgegenüber eher als theoretische Vorarbeiten angesehen werden.

(2) Wie nähert man sich diesem Buch an?
Dieser überaus ambitionierte Fachtext setzt Kenntnisse in mindestens folgenden Bereichen voraus:

  • Dem originalen Formenkalkül von George Spencer Brown (hilfreich sind dabei: [5,6])
  • Baeckers Interpretation in Richtung Sozialkalkül, siehe bspw. [2,4].
  • Luhmanns Systemtheorie seit ihrer autopoietischen Wende, weil sie quasi als Kontrastfolie zu Baeckers Theorieprogramm fungiert. Ein guter Einstieg kann hierbei über [7] erfolgen.

Lektüreerleichternd sind darüber hinaus auch Kenntnisse

  • des Deutschen Idealismus (Fichte, Hegel, etc.),
  • des Poststrukturalismus (Derrida, etc.),
  • von Gotthard Günthers kenogrammatischem und polykontexturalem Ansatz sowie Grundkenntnisse in Harrison C. Whites Netzwerkansatz.

Die Lektüre dieses Fachtextes ist also recht voraussetzungsreich. Insbesondere die ersten 60 Seiten fahren sehr heftiges formtheoretisches Geschütz auf, bei dem man zuerst einmal ins Schlucken kommt. Allerdings kann man diese Seiten auch zunächst überspringen, um später darauf (wiederholt) zurückzukommen.

(3) Was ist neu?
Leserinnen und Leser, die mit der soziologischen System- und Formtheorie von Luhmann / Baecker vertraut sind, wird einiges bekannt vorkommen. Allerdings wird hier die formbasierte Beobachtertheorie sehr profund und konsistent entwickelt, und zwar in folgenden Schritten:

  • Der Einstieg erfolgt mit einer ausführlichen Präsentation der formalen Grundlagen.
  • Dann wird die Vorgeschichte des Beobachterbegriffs in der Subjekt-Philosophie (Kant und die Deutschen Idealisten) erzählt.
  • Der dritte Schritt besteht in der Generalisierung des Beobachters über das klassische Subjekt hinaus, so daß nunmehr neben Bewußtsein und Sozialem auch andere selbstorganisierende Dynamiken zerebraler, zellulärer, maschineller und sonstiger biologischer Art (Stichwort: Schwärme) als mögliche Beobachter studiert werden können.
    Nicht-bewußtseinsförmige und nicht-soziale Beobachter sind freilich bislang formtheoretisch kaum erforscht, so daß Baecker hier eine Einladung ausspricht, ähnlich wie in [3] entsprechende Studien zu versuchen.
  • Der vierte Schritt ist eine eingehende Behandlung der Problematik der Negation (als Implikation, Widerstreit, etc.) im Rahmen der formal-abstrakten Beobachtertheorie.
  • Zu guter Letzt erfolgt eine form- und beobachtungstheoretische Charakterisierung und Anwendung des Kulturbegriffs, der oft nur als ein diffuser Ausdruck verwendet wird (siehe [8]).

(4) Fazit
Beobachter unter sich: Eine Kulturtheorie ist ein ambitionierter, faszinierender und virtuoser Referenztext für all diejenigen, die sich mit Dirk Baeckers Sozialkalkül und Kulturverständnis beschäftigen möchten. Dabei sind die Verständnishürden teilweise recht hoch, so daß manche Leserinnen und Leser wohl  an der Lektüre scheitern werden. In diesem Fall ist der Umweg über die oben genannten Lektürehilfen sinnvoll.

PS –
Sollte jemandem auffallen, daß diese Rezension Ähnlichkeiten zu einer entsprechenden Amazon-Rezension von Baeckers Text aufweist… Ich habe mir in diesem Fall erlaubt, mich ein wenig selbst zu plagiieren. Honni soit…  🙂

(5) Buchausgaben
Gebundene und Kindle-Ausgaben sind bspw. bei Amazon unter folgendem Link erhältlich:
Beobachter unter sich

(6) Literaturhinweise
[1]
Baecker, D. (2015c), Es gibt keine sozialen Systeme, Verhandlungen der Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, April 2015 (Preprint: 2014):
URL des Preprints:   Es gibt keine sozialen Systeme [Zugriff: 5. Juni 2016].
[2]  – (2015b),  Working the Form: George Spencer-Brown and the Mark of Distinction*.
URL (auch eine deutsche Version ist verfügbar): Working the Form
[Zugriff: 26. Mai, 2016].
[3] – (2014), Neurosoziologie: Ein Versuch, Berlin: edition unseld.
[4] –  (Hrsg.) (1993), Kalkül der Form, Frankfurt / M.: Suhrkamp.
[5] Lau, F. (2012), Die Form der Paradoxie. Eine Einführung in die Mathematik und Philosophie der “Laws of Form” von George Spencer Brown, Heidelberg: Carl Auer.
[6] Schönwälder-Kuntze, T. / Wille, K. / Hölscher, T. (2009, 2 ed.), George Spencer Brown. Eine Einführung in die “Laws of Form”, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
[7] Luhmann, N. (2011, 6. Aufl.), Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg: Carl Auer.
[8] Fuchs, P. (2016), Was fangen wir nur mit Kultur an?,
URL: Was fangen wir nur mit Kultur an? [Zugriff: 5. Juni 2016].

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